Warum es wichtig ist, über das Sterben zu reden

Medizinischer Fortschritt verlängert Leben und verändert die Art zu sterben. 

Wir alle werden laufend älter. Das klingt gut. Oder doch nicht? Denn statt länger jung zu bleiben, verlängern wir das Altern und zögern das Sterben hinaus. Das klingt hart. Aber im 21. Jahrhundert müssen wir uns die Frage stellen, was Sterben bedeutet und wie es sein wird.

Es ist klar, dass wir weiterhin alle sterben werden. Ohne Ausnahme. Das ist wenig überraschend. Dennoch glaubt laut Umfragen einer von acht Menschen, unsterblich zu sein. Das ist erstaunlich. Es ist eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird.

Angst und Machtlosigkeit

Während ich diese Gedanken niederschreibe, sterben bereits in den nächsten zehn Minuten 100 Millionen meiner Körperzellen. Über den ganzen Tag gesehen sind es 2.000 meiner Gehirnzellen, die unwiederbringlich absterben. Man kann darüber streiten, wann und wie früh der Prozess des Sterbens einsetzt, aber er ist unumkehrbar. Heute bereitet uns das Sterben mehr Angst und gefühlte Machtlosigkeit denn je. Wenn wir dagegen nichts unternehmen, wird das Sterben – und die Sorge davor – in Zukunft die meisten unserer Lebensaktivitäten bestimmen.

Ich bin Urologe und Onkologe. Die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Kampf gegen den Tod bestimmen meinen Alltag, mein Denken und Tun. Das gibt mir die Kraft und den Antrieb, diesen Weg mit meinen Patienten und ihren Familien zu gehen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir unglaubliche Fortschritte gemacht, was das Überleben unserer Patienten betrifft. Die zahlreichen neuen Technologien, die uns heute zur Verfügung stehen, tragen dazu bei. Manches Mal stellt sich jedoch für den Einzelnen, aber auch die Gesellschaft, die Frage: „Zu welchem Preis?“ – Stichwort Lebensqualität.

Die unglaublichen Erfolge in der Medizin sind wichtig und gut. Aber wir haben uns auch in diesem Erfolgsnetz verfangen. Etwa indem wir Ausdrücke wie „lebensrettend“ unreflektiert verwenden. Warum? Wir Ärzte sind keine Lebensretter. Wir verlängern Leben, zögern den Tod hinaus oder leiten den Sterbeprozess um. Streng genommen können wir keine Leben retten – zumindest nicht auf Dauer. Passiert ist vielmehr Folgendes: Wir haben die Art zu sterben verändert. Die meisten Ursachen jedoch, woran die Menschen heute sterben, sind für lebensverlängernde Maßnahmen nicht zugänglich.

Das Sterben ausblenden – bis zum Tod?

Sterben und Tod ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Man vermeidet es, über das Sterben zu reden. Auch wenn man schwerkrank ist. Als Kämpfer für das Leben sehen sich viele von uns Ärzten immer wieder schwierigen Situationen gegenüber.

Wie dieser: Ich werde auf die Station gerufen, um nach einem Patienten mit weit fortgeschrittenem metastasiertem Prostatakarzinom zu sehen. Seine Tochter ist da und sagt, sie wolle, dass alles Erdenkliche für ihren Vater getan werde. Ein uns Ärzten sehr vertrauter, häufig geäußerter Wunsch.

Ich sehe mir den Patienten also an: Seine Haut ist durchsichtig bis auf die Knochen. Er ist sehr, sehr dünn. Es geht ihm wirklich sehr schlecht. Er leidet an tumor-induzierter Kachexie und ist zu schwach, um mit mir reden zu können. Also wende ich mich zur Tochter und frage: „Haben Sie und Ihr Vater jemals darüber gesprochen, welche Maßnahmen sie wünschen, wenn es so weit ist?“ Sie schaut mich an und sagt: „Nein, natürlich nicht! Wir haben immer geglaubt, es ist noch Zeit.“ Der Mann ist 89.

Die Betroffenen führen wohl kein Gespräch über das Sterben, was ich bislang immer als gegeben ansah. Tatsächlich zeigen auch Studien bei Frauen und Männern in Altersheimen, dass weniger als eine/r von 100 einen genauen Plan dazu hat, was bei Herzversagen zu geschehen hat. Und nur eine/r von 500 hat einen Plan, welche Maßnahmen gesetzt werden dürfen, wenn sie/er schwerkrank wären. Das zeigt: Ein ich-bezogener Dialog über das Sterben findet bei den meisten Menschen überhaupt nicht statt. Obwohl wir wissen – bis auf diejenigen, die anscheinend tatsächlich anderes glauben –, dass wir sterben werden.

Nachdenken über das Wie

Über das Wie nachzudenken wäre sinnvoll. Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Angehörigen. Denn die Art, wie wir sterben, bleibt allen Nahestehenden im Gedächtnis. Der Stress, den ein Todesfall in der Familie verursacht, ist enorm. Wobei es auch hier große Unterschiede gibt: Ein Sterbefall auf der Intensivstation etwa bedeutet nochmals siebenfach größeren Stress. Wenn wir also die Wahl hätten, auf der Intensivstation den Tod zu finden, würden wir es uns nicht wünschen. Aber leider deutet alles darauf hin, dass die meisten von uns voraussichtlich genau an einem solchen Ort sterben werden.

Im Wesentlichen gibt es drei Wege zum Tod. Die erste Möglichkeit – von der wir zwar immer wieder hören, die aber bald Geschichte sein wird – ist der plötzliche Tod. Der plötzliche Tod oder Sekundentod ist heute zu einer Seltenheit geworden. Diese Form trifft eher jüngere Menschen mit einer terminalen Erkrankung. Hat man aber einmal das 80. Lebensjahr erreicht, ist es weit weniger wahrscheinlich, dass dieser Fall eintritt.

Weit größer ist die Wahrscheinlichkeit, an fortschreitendem Organversagen zu sterben; dass also die respiratorischen, die kardialen, renalen oder andere Organe nach und nach versagen. All diese Fälle führen ins Krankenhaus zu einer Akutversorgung. Bei diesem Aufenthalt ist es dann wahrscheinlich, dass schließlich – nach mehr oder weniger langer Zeit – der Betroffene oder ein Angehöriger sagt: „Es ist genug.“

Und schließlich das Schwinden der Leistungsfähigkeit mit fortschreitender Gebrechlichkeit. Diese dritte Art des Todes nimmt in unserer Zeit enorm zu – aus heutiger Sicht werden zumindest sechs von zehn Menschen an Gebrechlichkeit sterben. Es handelt sich dabei um einen unvermeidbaren Aspekt des Alterns. Durch die fortschreitende Gebrechlichkeit wird die letzte Zeit in unserem Leben – ein Jahr vielleicht oder auch ein ganzes Jahrzehnt – mit sehr unangenehmen und großen Einschränkungen beziehungsweise Behinderungen verbunden sein.

Das passiert, weil wir nur danach streben, ein möglichst hohes Alter zu erreichen. Denn unglücklicherweise ist eine gesteigerte Lebenserwartung gleichbedeutend mit einer Verlängerung der Zeit im Alter, und nicht der Zeit in der Jugend. Wir sind also länger alt, statt länger jung(geblieben).

Beim Sterben zur Seite stehen

Was sollen wir tun? Wir müssen einfach darüber reden. Um das zu erreichen, müssen wir unsere Ärzte weiter schulen, mit den Menschen über die Tatsache zu sprechen, dass sie einmal sterben werden, was sie sich erwarten und wünschen. Um das zu erreichen, müssen wir unsere Pflege- und Ärzteschaft kontinuierlich darin schulen, mit den Menschen über die Tatsache zu sprechen, dass sie einmal sterben werden und was sie sich erwarten. Und wenn die Patienten ihre Wünsche äußern, sollten sie nach Möglichkeit auch erfüllt werden.

Eigentlich sollte dieses Gespräch schon außerhalb des medizinischen Rahmens beginnen, also in der sicheren Umgebung der Familie. Mit einer einfachen Frage: „Für den Fall, dass du zu krank bist, um für dich selbst zu sprechen, wer sollte dann für dich sprechen?“ Das ist wirklich eine wichtige Frage, die man sich ruhig gegenseitig stellen sollte – besser früher als später. Eine zweite Frage könnte lauten: „Hast du schon mit dieser Person über die Dinge gesprochen, die für dich wichtig sind, damit die Ärzte und wir eine bessere Vorstellung davon haben, was sie oder wir tun können?“

Und schließlich gibt es auch den politischen Aspekt. Die Diskussion über Sterbehilfe wird in aufgeheizter Stimmung geführt und trifft in dieser Form in Wirklichkeit nur auf einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung zu. Die meisten Menschen wollen nicht tot sein, das ist klar. Aber ich denke, die meisten Menschen wollen zumindest eine gewisse Kontrolle darüber behalten, wie und in welchem Rahmen ihr Ableben vor sich geht.

Wir benötigen in Österreich unbedingt mehr Hospizeinrichtungen. Wir brauchen mehr Hilfe und Unterstützung für Menschen im letzten Stadium ihres Lebens. Und zwar, weil uns der Mensch etwas bedeutet – bis zum allerletzten Augenblick. (Shahrokh F. Shariat, 14.8.2015)

Shahrokh F. Shariat leitet die Universitätsklinik für Urologie an der Medizinischen Universität Wien und bloggt auf derStandard.at.

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